Statement zum BGH-Beschluss vom 22.04.2020

[Hier könnt ihr das Statement im PDF-Format herunterladen.]

Wie sicherlich viele von Euch mitbekommen haben, hat der Bundesgerichtshof (BGH) im April über einen Antrag einer Person, die sich weder als weiblich noch als männlich verortet, entschieden.

Die Ausführungen des BGH sind an vielen Stellen von einer Unkenntnis bzw. Ignoranz der Belange und Lebenssituation von intergeschlechtlichen und transgeschlechtlichen Menschen geprägt. Wir wollen an dieser Stelle jedoch keine Fortbildung für die Richter*innen des 12. Zivilsenats des BGH betreiben, sondern eine Zusammenfassung der Entscheidung und Einschätzung der Situation mit Euch teilen:

Vorgeschichte

Die Person hatte schon vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Dritte-Options-Verfahren von Vanja den Antrag gestellt den Geschlechtseintrag streichen zu lassen. Das OLG Düsseldorf hatte dann nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht dem Antrag stattgegeben und dabei nicht auf den neu geschaffenen § 45b Personenstandsgesetz (PStG) zurückgegriffen, sondern einen anderen Verfahrensweg aus dem PStG (§ 22 Abs. 3 PStG i.V.m. § 48 PStG) für anwendbar gehalten. Dadurch waren weder die im TSG vorgeschriebenen zwei Sachverständigengutachten nötig, noch die Vorlage eines ärztlichen Attestes wie in § 45b Abs. 3 PStG vorgeschrieben.

Entscheidung des BGH

Diese Entscheidung des OLG Düsseldorf hat der BGH nun mit Beschluss vom 22.04.2020 aufgehoben. Kernaussage der Entscheidung des BGH ist, dass alle Personen mit einer nachhaltig empfunden fehlenden Zugehörigkeit zu dem männlichen oder weiblichen Geschlecht einen Anspruch auf eine Eintragung als ‚divers‘ oder eine ersatzlose Streichung des Geschlechtseintrag im Geburtenregister haben. Allerdings ist dies nach Ansicht des BGH für Personen ohne eine ärztlich attestierte körperliche Anlage einer Variante der Geschlechtsentwicklung ausschließlich durch ein Verfahren nach dem TSG möglich. Das TSG sei zwar ursprünglich binär-geschlechtlich formuliert, aber sei nun auch für Personen ohne eine binäre Geschlechtszugehörigkeit anwendbar. (Für Menschen ohne juristischen Background, die die juristischen Details verstehen wollen: Der BGH nimmt an, dass eine analoge Anwendung des TSG die Lösung ist. Unter einer analogen Anwendung versteht man in der Rechtswissenschaft die Übertragung einer Regel auf eine Situation, die von dieser Regel zwar nicht erfasst ist, aber die ähnlich ist und für die es keine eigene Regelung gibt.)

Rückschlag oder weiterer Schritt?

Die Entscheidung des BGH ist nicht ohne einen Blick auf ‚den Gesetzgeber‘ einzuordnen. Der Gesetzgeber hat sich in Bezug auf Trans*- und Inter*-Rechte bisher hauptsächlich durch Untätigkeit hervorgetan. Als 2018 durch eine vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist eine Gesetzesreform unumgänglich war, hat die derzeitige Regierungskoalition alles dafür getan, um die Anzahl der Personen, die einen Eintrag als ‚divers‘ erlangen kann, möglichst klein zu halten. Obwohl aus mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hervorgeht, dass ein Anspruch auf eine Anerkennung der geschlechtlichen Identität unabhängig von dem körperlichen Zustand besteht, hat die Regierung mit der Einführung des § 45b PStG versucht, die Erklärung einer Person über ihre eigene Geschlechtszugehörigkeit von der Beurteilung des Körpers durch die Medizin abhängig zu machen.

Bereits mehrere Gerichte und ein vom BMFSFJ in Auftrag gegebenes Gutachten sind zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Einschränkung nicht verfassungsgemäß ist und die Regelung des § 45b PStG allen Personen, deren Geschlechtszugehörigkeit von ihrem Eintrag im Geburtenregister abweicht, offensteht (Amtsgericht Münster, Beschluss vom 05.02.2020 – 22 III 130/18 –; Amtsgericht Münster, Beschluss vom 16.12.2019 – 22 III 36/19; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.07.2019 – I-25 Wx 76/17 (Anwendung von § 22 Abs. 3 PStG statt § 45b PStG – aufgehoben durch den BGH); einschränkend nur für enby: Amtsgericht Oldenburg, Beschluss vom 20.04.2020 – 93 III 15/20 –; Amtsgericht Dortmund, Beschluss vom 24.09.2019 – 310 III 10/19; Gutachten von Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, Maya Markwald und Dr. Cara Röhner, abrufbar unter: https://eufbox.uni-flensburg.de/index.php/s/WwkHJkHaEaHpkQk#pdfviewer).

Der BGH hält die Beschränkung des § 45b PStG auf Personen mit einer medizinischen Diagnose einer Variante der Geschlechtsentwicklung jedoch für verfassungsgemäß. Dennoch kommt auch der BGH aufgrund der deutlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht umhin anzuerkennen, dass ein Anspruch auf rechtliche Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität allen Menschen offenstehen muss. Diese beiden entgegenstehenden Sichtweisen bringt der BGH dadurch in Einklang, dass er im Ergebnis völlig unabhängig von einer Beurteilung des Körpers einen Anspruch auf eine Streichung des Geschlechtseintrags oder der Eintragung ‚divers‘ bestätigt. Um eine Streichung oder eine Eintragung ‚divers‘ zu erreichen, verweist der BGH jedoch alle Menschen ohne einen entsprechenden ärztlichen Nachweis auf das TSG – und somit auf die Einholung von zwei Sachverständigengutachten.

Resümee

Sicherlich ist es frustrierend, dass der BGH auf das TSG verweist, welches veraltet und nur noch rudimentär gültig ist und sich nicht der mutigen und überzeugenden Rechtsprechung des OLG Düsseldorf und des Amtsgerichts Münster anschließt. Dennoch hat der Beschluss des BGH auch positive Seiten: Es war angesichts der bezüglich der Belange von trans* und inter* Personen bisher eher konservativen Rechtsprechung des BGH nicht erwartbar, dass dieser so klar und deutlich die grundrechtlichen Ansprüche von dyadischen nicht-binären Menschen zum Ausdruck bringt. Somit steht nun fest, dass auch dieser Personenkreis einen Anspruch auf rechtliche Anerkennung durch eine Streichung des Geschlechtseintrags oder einer Eintragung als ‚divers‘ hat.

Voraussichtlich wird eine Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des BGH erhoben werden. Wann über eine solche Verfassungsbeschwerde entschieden werden wird und wie die Rechtslage nach einer Entscheidung aussieht, ist derzeit nicht absehbar. Aber alle, die möglichst zeitnah eine rechtliche Dokumentation ihrer nicht-binären Geschlechtlichkeit wollen, können, wenn eine Erklärung nach § 45b PStG nicht gewollt ist oder vom Amt nicht akzeptiert wird, einen Antrag nach § 8 TSG stellen. Allen, die einen Antrag nach dem TSG stellen, empfehlen wir dringend sich vorher über mögliche Gutachter*innen zu erkundigen und dem Gericht zwei konkrete Gutachter*innen vorzuschlagen. Denn wie lange ein TSG-Verfahren dauert und wie sehr eure Individualität und Privatsphäre dabei geachtet wird, hängt entscheidend von der Person der Gutachter*innen ab. Deren Auswahl trifft zwar das Gericht, aber ihr könnt mit euren Vorschlägen Einfluss darauf nehmen.

Die BGH-Entscheidung ist hier abrufbar.